
Kreuzberger Künstlerkreis, 1975, Foto: Werner Kohn
Die „zinke“ in der Oranienstraße zog bis zu ihrer Auflösung 1962 Tausende von Besuchern an, bis zum Mauerbau auch viele aus dem Osten, die Galeristen veranstalteten zahlreiche Ausstellung und Lesungen. Kunst und Leben verband sich in einer für spätere Produzentengalerien vorbildlichen Weise. Die „zinke“ brachte Kreuzberg ins Gespräch – und ins Gerede. Der Kunsthistoriker und Begründer der Berlinischen Galerie, Eberhard Roters, schrieb: „Der Rückzug auf den Kietz, wie es den Anschein hat, ist in Wirklichkeit gar kein Rückzug, sondern die Herausforderung von einigen Individualisten gegen die Nivellierungstendenzen des internationalen Einheitsindividualismus.“
Zeitgleich zur „zinke“ wurde Mühlenhaupts Trödelhandlung in der Blücherstraße zum Treffpunkt der Nichtangepassten und Bohemiens, und Mühlenhaupt avancierte zum Milieu-Maler par excellence, zum ungekrönten „König von Kreuzberg“, im Berliner Westen bekannt und populär wie Bubi Scholz oder Harald Juhnke. Mit seiner Künstlerkneipe Leierkasten in der Zossener Straße, in der unter anderen Gerhard Kerfin, Ingo Insterburg, Lothar Klünner und Johannes Schenk Texte und Lieder vortrugen, Manfred Beelke, Artur Märchen und Pit Morell ausstellten, machte er ebenso Furore wie mit seinen „Biertrinkerblättern“. Aus dem Bildermarkt vor seiner Trödelhandlung ging 1963 der Kreuzberger Bildermarkt am Fuße des Kreuzbergs hervor: „Kunst auf der Wäscheleine“ textete die zeitgenössische Presse.
Zu einem weiteren Zentrum der Kreuzberger Boheme wurde das 1961 von Hertha Fiedler aus der Taufe gehobene Lokal Kleine Weltlaterne in der Kohlfurter Straße (heute in Charlottenburg gelegen und von ihrem Sohn betrieben), in dem sich Kunst, Literatur und Musik, geistig und alkoholisch Hochprozentiges, auf hohem Niveau miteinander verbanden. Hier verkehrten – neben Prominenten wie Günter Grass, Friedrich Dürrenmatt, André Heller, Friedensreich Hundertwasser und Henry Miller – die Mitglieder der Werkstatt Rixdorfer Drucke aus der Oranienstraße und der weltberühmte Art brut-Künstler Friedrich Schröder-Sonnenstern, hier stellten unter vielen Arwed D. Gorella, Johannes Grützke, Rudi Lesser und Reiner Schwarz aus, hier lasen Jürgen Beckelmann, Ulf Miehe, Kurt Neuburger und Robert Wolfgang Schnell, der mit seinem Roman „Geisterbahn. Ein Nachschlüssel zum Berliner Leben“ der Kreuzberger Szene ein Denkmal setzte.
Es entstanden in den sechziger Jahren die Künstlerselbsthilfegalerie Forum, in der auch Theater gespielt wurde, die Galerie Vernissage und die Nachtgalerie, Künstlerlokale wie die Malkiste, wo 1967 die „Juryfreie“, und das Zodiak, wo 1968 das „Erste Berliner Kurzgeschichten-Festival“ stattfand, bevor das Lokal 1969 zum Geburtsort elektronischer Musik in Deutschland, zum Haschkeller und beliebten Treffpunkt der APO (Außerparlamentarische Opposition) wurde – das war dann bereits die nächste Kreuzberger Subkultur-Generation
Die Kreuzberger Boheme umfasst viele Facetten. Ihre Protagonisten waren teils in Kreuzberg geboren, lebten und arbeiteten in Kreuzberg, stellten dort aus oder nahmen sich Kreuzberg zum Thema. Der innerstädtische aber mauernahe Bezirk, wurde zum lebensgeschichtlichen und geistigen Anziehungspunkt für viele, Kreuzberg zum Treffpunkt auch internationaler künstlerischer und intellektueller Besucher sowie neugieriger Touristen. Die Kreuzberger Boheme war die Keimzelle einer Subkultur, die in den folgenden Jahrzehnten den Bezirk – auch in erweiterter Form – als Zentrum einer lebendigen und innovativen Szene positionierte, die auf die Stadt und auch weit darüber hinaus bis heute ausstrahlt.
Die Kreuzberger Bohème der 1960er und 70er Jahre
Berlin-Kreuzberg wurde in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Berlin (West) zum Inbegriff einer Alternativkultur, die sich vom offiziellen Kulturbetrieb am Kurfürstendamm und seiner Umgebung – teils in bewusster Opposition, teils in spielerischer Selbstbespiegelung – abhob. Kunst und (Alltags-)Leben sowie auch die Kunstsparten untereinander gingen eine enge Verbindung ein (Bildende Kunst, Literatur, Theater, Musik). Ein Grund dafür war die Randlage des Innenstadtbezirkes Kreuzberg nach der Teilung der Stadt. Der Bezirk war Zentrum der drucktechnischen Betriebe gewesen. Aus deren in der Nachkriegszeit teils aufgegebenen Hinterlassen-schaften konnten sich viele Künstler mit Maschinen und Material eindecken, sie übernahmen leere Fabriketagen als Wohn- und Arbeitsraum oder nisteten sich in den ehemaligen großräumigen Ateliers von Fotografen ein, die sich wegen ihrer militärischen Auftraggeber meist in der Nähe von Kasernen niedergelassen hatten. Auch der Leerstand vieler Ladenräume in dem von der Mauer umklammerten Bezirk animierte zu neuen Wohn- und Präsentationsformen.
Im Szene-Bezirk Kreuzberg erwuchs somit ein für das gesamte Berlin exemplarischer Freiraum (auch nach dem Mauerbau mit einseitig-klandestinen Austauschmöglichkeiten mit Ost-Berlin), in dem sich Ironie, Naivität, Phantasie und Außenseitertum zu einer unnachahmlichen, durchaus auch widersprüchlichen Mixtur verbanden – mit Auswirkungen auf das damalige kulturelle Klima des westlichen Berlins und existenziell-konzeptionellen Verbindungslinien bis ins gegenwärtige Kulturleben in Friedrichshain-Kreuzberg, im übrigen Berlin und darüber hinaus. Der Kunst-, Musik- und Theaterkritiker sowie Mitstreiter der Kreuzberger Boheme, Hellmut Kotschenreuther, reflektierte dieses kulturhistorische Phänomen als Impuls aus dem Hinterhof. Ein anderes Schlagwort, mit dem die Kreuzberger Kunstszene in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts beschrieben wurde, ist Berliner Montmartre, von den Protagonist*innen selbst aber weder benutzt noch gern gehört. Seine Ursprünge liegen in den späten Fünfzigern, zu einer Zeit also, in der der auf Gesamt-Berlin bezogen zentral gelegene Bezirk Begegnungen zwischen Ost und West ermöglichte. Die Initialzündung ging von der Galerie zinke aus, die von den Künstlerpoeten Günter Bruno Fuchs und Robert Wolfgang Schnell, dem Bildhauer Günter Anlauf und dem Maler Sigurd Kuschnerus ins Leben gerufen wurde und wo u.a. Autoren wie Günter Grass, Peter Hamm und Rolf Haufs zu Wort kamen.
Schnell erinnert sich: „Günter Bruno Fuchs war geborener Kreuzberger und blieb es, obwohl er nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr in Kreuzberg wohnte. Aber dort waren seine Straßen, seine Plätze, seine Menschen, und er überzeugte die Mitgründer Anlauf und Schnell 1959, daß hier die Stelle wäre, Kunst aus den ästhetischen Zirkeln herauszuholen und sozial fruchtbar zu machen.“